Wirkungsvolle Angehörigenarbeit erfordert:
- Die Berücksichtigung der Rechte der Angehörigen im ganzen Prozess des Justizvollzugs.
- Schweizweite extramurale, spezialisierte Beratungsstellen, die bei Bedarf Fach- und Sachhilfe zur Unterstützung von betroffenen Angehörigen leisten.
Folgen einer Inhaftierung
Durch den Gefängnisaufenthalt werden Inhaftierte aus ihren gewohnten sozialen Bezügen und Rollen herausgerissen und können ihre Identität als Familienmitglied, Vater, Mutter, Partner, Partnerin usw. verlieren. Diese Auswirkungen treffen aber nicht nur die inhaftierten Personen selbst, sondern auch ihr soziales Umfeld, denn der stationäre Vollzug grenzt nach beiden Seiten aus. Gemäss Studien können sich die Probleme für Angehörige in folgenden Bereichen manifestieren:
- Einkommensverlust
- Verlust einer wichtigen Bezugsperson
- Stigmatisierung (vermeintlich oder tatsächlich)
Je nach Beziehung zur inhaftierten Person, werden die Folgen der Inhaftierung unterschiedlich wahrgenommen. So werden die Kinder einer inhaftierten Person die Tatsache, dass die Bezugsperson weg ist anders interpretieren als der/die EhepartnerIn oder beispielsweise der Arbeitgeber. Aus Sicht von «Perspektive Angehörige und Justizvollzug» ist es wichtig, dass spezialisierte Beratungsstellen auf die unterschiedlichen Fragen und Bedürfnisse der Angehörigen eingehen können. Hier finden Sie Links zu Beratungsstellen, die Sie unterstützten.
Wer ist „angehörig“?
Der Begriff der „Angehörigen“ wird in verschiedenen Kontexten unterschiedlich definiert. In der Psychiatrie z.B. sind Angehörige Personen, „welche mit einem/er Patient/in in einer relativen intensiven Beziehung stehen“ (UPD, 2005). Dieser weiten Begriffsbestimmung steht die enge Definition in Art. 110 im Strafgesetzbuch (StGB) gegenüber. Angehörige werden darin wie folgt abschliessend aufgelistet:
Angehörige einer Person sind ihr Ehegatte, ihre eingetragene Partnerin oder ihr eingetragener Partner, ihre Verwandten gerader Linie, ihre vollbürtigen oder halbbürtigen Geschwister, ihre Adoptiveltern, ihre Adoptivgeschwister und ihre Adoptivkinder.
Personen, welche keine rechtlich bindende Beziehung mit der betroffenen Person unterhalten (bspw. KonkubinatsparterInnen) sowie ArbeitgeberInnen gelten folglich gemäss Strafgesetzbuch nicht als Angehörige.
Der Verein «Perspektive Angehörige und Justizvollzug» ist der Überzeugung, dass der Begriff „Angehörige“ in einem erweiterten Sinne betrachtet werden muss. Nicht jede verwandtschaftliche Bezugnahme stellt ohne weiteres eine gewünschte und gewollte Beziehung dar. Freundschaften zu ausserfamiliären Personen, wie z.B. Arbeitskollegen, Vereinskameraden oder langjährigen Nachbarn, sind für die inhaftierte Person oft wichtiger und wertvoller als solche zu Verwandten. Deshalb versteht der Verein «Perspektive Angehörige und Justizvollzug» unter Angehörigen diejenigen Personen, welche in prosozialer Form mit der inhaftierten Person eng verbunden sind.
Rechte von Angehörigen
Grundrechte von Angehörigen können durch Inhaftierungen temporär oder permanent eingeschränkt werden. Es gibt internationale und nationale gesetzliche Bestimmungen, welche direkt oder indirekt Auswirkungen auf die Rechte von Angehörigen inhaftierter Personen haben. Zu nennen sind hier:
- Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) aus dem Jahr 2015
- Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Empfehlungen des Europarates Rec(2006)2
- Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0)
- Schweizerische Bundesverfassung vom 18. April 1999 (SR 101)
- Grundlagen für den strafrechtlichen Sanktionenvollzug in der Schweiz; genehmigt von der KKJPD am 13. November 2014
Die Kinder geniessen besonderen Schutz. Die Rechte der Kinder von inhaftierten Personen werden in folgenden Bestimmungen explizit festgehalten:
- Empfehlungen CM/Rec (2018)5 des Ministerkomitees (Europarat) an die Mitgliedstaaten zu Kindern inhaftierter Eltern
- Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN Kinderrechtskonvention) vom 20. November 1989 (Ratifizierung durch die Schweiz am 24. Februar 1997)
Trotz dieser diversen gesetzlichen Bestimmungen fehlt es bisher an einer nationalen Strategie, wie mit den Angehörigen von inhaftierten Personen umgegangen werden soll.
Buchtipps
- “Tim und das Geheimnis der blauen Pfote” ein Buch für 3-7jährige Kinder mit einem inhaftierten Elternteil. Die Schweizer Version kann direkt bei uns bestellt werden. Die französische Version kann hier bestellt werden. Für Betroffene ist das Büechli kostenlos. Für Interessierte wird es zu einem Unkostenbeitrag von Fr. 10.-/Büechli zugestellt. Für interessierte Personen aus Deutschland: Wir verschicken keine Büechli nach Deutschland. Sie finden das Büechli zum Download unter diesem Link.
- Saussure Sophie hat in ihrem Buch „Condamner une personne, punir ses proches?“ die Rechtslage der Schweiz in Bezug auf die Angehörigen von inhaftierten Personen beschrieben. Das Buch existiert bisher nur in französischer Sprache. (Saussure, Sophie. 2020. Condamner une persone, punir ses proches? ISBN: 978-2-88906-122-8).